Ist der schwedische Sonderweg zuende?

Die deutschen Medien triumphieren seit Anfang Dezember: der schwedische Sonderweg sei zuende, Schweden schwenke endlich auf die Linie ein, auf der die Mehrheit der europäischen Länder einschliesslich Deutschlands fahre. Da ja die Meinungsstärke der deutschen Medienmacher bekannt ist, lohnt es sich aber, genauer hinzusehen, was wirklich dahinter steht.

Es stimmt: am 20. November hat die Regierung erstmalig seit langer Zeit die Personenzahl für öffentliche Zusammenkünfte auf 8 Personen begrenzt1 und im Dezember folgte eine weitere Begrenzung. Es stimmt auch, dass der Alkoholausschank in der Gastronomie zeitlich begrenzt wurde. Und es stimmt auch, dass die Gesundheitsbehörde die umfassend ablehnende Position gegen Masken geändert hat und für Pflegeeinrichtungen die Maskenanwendung empfiehlt. Ebenso gilt ab dem 7. Januar eine Empfehlung für Maskentragen im öffentlichen Nahverkehr.

Ausserdem wurde ein Pandemiegesetz auf den Weg gebracht, das der Regierung ermöglicht, Betriebe zu schliessen, mithin einen Lockdown einzuführen. Es ist derzeit noch im Gesetzgebungsprozess und könnte irgendwann zwischen Januar März verabschiedet werden, wie die Zeitung Aftonbladet aus den verfassungsrechtlichen Fristen errechnet hat.

Doch glänzen die deutschen Qualitätsmedien mal wieder damit, was sie an Details alles weglassen und mit der Stärke der Interpretationen, die sie aus dem geringen Hintegrundwissen ableiten.

Jede der neuen Bestimmungen hat nämlich schon in sich Einschränkungen, die es in der Form in Deutschland nicht gibt. Die Personenbegrenzung für Zusammenkünfte gilt z.B. ausschliesslich für öffentliche Zusammenkünfte, private sind nicht betroffen. Die Bürger können also nach wie vor ihre familiären Weihnachts- und Silvesterfeiern halten. Wer unbedingt will, kann ausserdem seine öffentliche Veranstaltung mit bis zu 300 Personen durchführen, wenn es für alle Teilnehmer einen Sitzplatz gibt und der Mindestabstand gewahrt bleibt.

Die Empfehlung für das Maskentragen gilt nur für Stosszeiten. Natürlich steht es einzelnen Verkehrsunternehmen oder Verbünden frei, darüber hinausgehende Regelungen zu treffen – nur: das stand es auch bisher schon. Es gibt ja nicht anstelle einer Maskenpflicht etwa ein gesetzliches “Maskenverbot”. Unter Stosszeit versteht Staatsepidemiologe Anders Tegnell die Zeitfenster, in denen Gedränge entsteht, also voraussichtlich die Spitzenzeiten des Pendelverkehrs am frühen Morgen und Nachmittag.

Für Virologen und andere Aktivisten aus der Pandemikerszene ist das viel zu wenig. Ihr Sprachrohr Frederik Elgh hat in allen massgeblichen Medien schon lautstark beschwert und die Einführung einer allgemeinen Maskenpflicht zu jeder Zeit und überall gefordert2 wie er übrigens auch seit Winterbeginn einen umfassenden Lockdown fordert3.

Auch wenn man sich das Pandemiegesetz näher ansieht, fallen Unterschiede auf. Das fängt schon damit an, dass ausdrücklich auf verschiedene Abstufungen von Massnahmen Wert gelegt wird. So ist neben einem allgemeinen Total-Lockdown auch eine Begrenzung der Besucherzahl oder der Öffnungszeiten denkbar4. Angesichts der Kurzentschlossenheit, mit der etwa in Deutschland und Österreich zu Winterbeginn gleich der Dampfhammer der maximalen Stufe verhängt wurde, bedeutsam.

Darüber hinaus ist das Pandemiegesetz zeitlich auf ein Jahr befristet. Es müsste ein Jahr nach Verkündung erneut durch den Gesetzgebungsprozess gehen, um verlängert zu werden. Der Reichstag ist offensichtlich nicht gewillt, das Gesetz über übertragbare Krankheiten, das die Funktion des deutschen IfSG erfüllt, für die Corona-Sondersituation dauerhaft zu ändern. Eingehalten wird weiterhin, trotz der besonderen Situation, des Drucks von Virologen, Medien und dem Ausland, der reguläre Gesetzgebungsprozess, ganz gleich, wie lange das dauert. Die Festsetzung von “Regeln” ausserhalb der verfassungsmässigen Ordnung durch Regierungspädagogen unter Muttis allweiser Hand ist in Schweden immer noch tabu.

Das ist womöglich auch der massgebliche Grund für die verhältnismässige Ruhe im Land. Es gibt immer noch keine Querdenker, keine Petitionen oder Demos zur Aufhebung der besonderen Regularien. Anders Tegnell bindet die neuen Beschlüsse in seiner bekannten rhetorisch sparsamen Form in die Strategie von Gesundheitsbehörde und Regierung ein, indem er z.B. sagt, dass man in der derzeitigen Lage nach jeder auch noch so kleinen Möglichkeit greifen müsse, um der Lage Herr zu werden. Einen grundsätzlichen Richtungswechsel gebe es aber nicht: “wir haben unsere Position keineswegs aufgegeben”5. Nach wie vor sieht er keinen überzeugenden wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit von Masken. Auf der Website der Behörde kann man eine Zusammenstellung von über 50 Studien finden, die sich mit der Maske befassen und die die Behörde offenbar untersucht hat6.

Und für eine langfristige Strategie macht es einen bedeutenden Unterschied, ob man grundsätzlich die Wirksamkeit einer Massnahme sieht oder eben nicht. Solange man sie im Gegenzug auch nicht für besonders schädlich hält, kann man sie ja durchaus zusätzlich anwenden. Ein Potential für eine gewisse Schädlichkeit sieht Tegnell aber durchaus, da die Maske ggf. Dazu führen könne, dass die Einhaltung des Mindestabstands vernachlässigt würde. Der nach wie vor der sehr viel bedeutendere Kernbaustein der Strategie ist. Im Gesamtkontext einer solchen Aussage kann man die teilweise Einführung einer Maske durchaus auch als Drahtseilakt sehen, der sehr sorgfältig abgewogen wird und möglicherweise gar nicht mehr als ein Experiment ist. Dessen Ausgang beobachtet und ausgewertet wird.

Um die schwedische Corona-Strategie zu verstehen, reicht es nicht, eine Schlagzeile zu lesen und sie so zu bewerten, wie man es aus dem planlosen Stolpern durch das Dunkel von Lockdown-Ländern kennt, die grobe Klötze hauen. Schwedens Sonderweg war niemals ein einfaches “Wir machen nichts”. Wer auf diesem Niveau das Land zu kennen meint, kann sich nur verspekulieren.

Es ist eine Sprache von einzelnen Worten, Zwischentönen und Hintersinn. Und einer damit verbundenen Politik von Kompromiss und Feintuning zwischen allen bekannten Interessengruppen, Forderungen und Stimmungen, wie bereits im Artikel Schwedische Wahrheiten7 im Sommer dargestellt. Derartig geschult, ist derzeit in Schweden keineswegs eindeutig ein Abgehen vom schwedischen Sonderweg zu sehen, sondern womöglich eine geschickte Anpassung, die sein Überleben sichert.


1 https://www.regeringen.se/artiklar/2020/03/andring-i-forordning-om-forbud-mot-att-halla-allmanna-sammankomster-och-offentliga-tillstallningar/

2 https://www.aftonbladet.se/nyheter/a/x3JnJp/professorn-infor-generell-anvandning-av-munskydd

3 https://www.svt.se/nyheter/inrikes/professorn-sverige-behover-en-nedstangning

4 https://www.regeringen.se/pressmeddelanden/2020/12/utkast-pa-tillfallig-pandemilag-for-covid-19-skickas-pa-remiss/

5 https://www.svt.se/nyheter/inrikes/tegnell-om-munskydden-maste-gripa-efter-alla-mojligheter